Axel Milberg über seine Kindheit in Kiel und seinen Roman "Düsternbrook" (2024)

Als "Tatort"-Kommissar ermittelt er in Kiel. Doch er selbst lebt schon lange nicht mehr dort. Mit dem stern reiste Milberg zurück in die Heimat. Und sprach über die Gespenster seiner Kindheit.

Axel Milberg über seine Kindheit in Kiel und seinen Roman "Düsternbrook" (1)

Ob man einfach mal klingeln soll? Axel Milberg steht vor dem Haus im Kieler Stadtteil Düsternbrook, in dem er einst aufgewachsen ist. Er zeigt hinauf zu Fenstern unterm Dach, hinter denen er einmal gelebt hat. Und sich nachts fürchtete, weil ihn im Traum ein Zwerg jagte und das Bett nass schwitzen ließ. Über die Zeit hat er ein Buch geschrieben, das erstaunlich offen geworden ist – vermutlich auch, weil er es als Roman angelegt hat und manche Wahrheit als Fantasie zu beschützen weiß.

An diesem Morgen ist er in Hamburg aufgebrochen, wo er ein Hörbuch aufgesprochen hat, "Drei Fragezeichen" oder so etwas. Hat im Ostseebad Laboe Station gemacht – der Name allein! Und hach, guck: Diese grotesk schönen Schriften an den Räucherfischbuden … Meist sind es Nebensächlichkeiten, die Heimatgefühl wachkitzeln. Auf der Fähre Richtung Düsternbrook-Bellevue, wo die Orte seiner Kindheit liegen, gesteht sich Milberg ein, kein Nordlicht mehr zu sein. "Ich bin aus guten Gründen nach München gezogen", sagt er. "Im Norden beschwert man sich gerne, überlegt, wer einen als Nächstes übers Ohr hauen will." Im Süden herrsche vielmehr dieses "Passt scho" und "Kriegma scho hin".

Axel Milberg –einer von hier

Trotzdem ist Milberg einer von hier, so wie er liebevoll in die vom Regenschleier übertünchte Nordsonne blickt und Gedichte über Möwen aufzusagen weiß. Deshalb hat er sich als Wahlmünchner zum Kieler "Tatort"-Ermittler machen lassen und ist nun für seinen ersten Roman zurückgekehrt. Als würde er die Preziosen eines verlassenen Museums zeigen, ist er an die Schauplätze seiner frühen Jahre gegangen: Himmelsleiter, Sternwarte – und: In diesem Haus da wohnte Lili, die erste Liebe.

Axel Milberg über seine Kindheit in Kiel und seinen Roman "Düsternbrook" (2)

Klingeln wir nun am Elternhaus oder nicht? Zu spät. Die heutige Bewohnerin kommt aus der Garage, sie müsse gleich weg. Auch egal. Das Kind Axel Milberg, es wohnt hier nicht mehr.

Stattdessen Kuchen essen im Hotel mit Blick auf die Kieler Förde, ein Relikt von früher, als Kiel wegen der Olympischen Spiele 1972 für einige Momente Weltstadt war.

Die Kellner scheinen Ihnen ängstlich zu begegnen. Fürchten die Menschen, Sie könnten privat das Gemüt des Kommissars Borowski haben?

Ist der so grantig? Manchmal habe ich das Gefühl, die haben Lampenfieber. Ich kriege nie, was ich bestellt habe. Kellner reden grundsätzlich mit meiner Frau. Sie wird gefragt: Was möchte er denn, Ihr Mann? Als wäre ich eine Holografie. Ich finde das lustig.

Dabei sind Sie eher der entgegengesetzte Charakter zu diesem "Tatort"-Ermittler.

Ich bin Schauspieler, ich bin meistens anders. Ich höre das ständig, die Leute sagen: Ach, wir dachten, Sie sind so und so … Dann sind alle erleichtert. Mit meinem Roman hat diese Rolle allerdings nichts zu tun.

Wir sind also in Düsternbrook, dem Stadtteil Ihrer Kindheit. Sie erzählen im gleichnamigen Roman die Geschichte eines Kindes, und dieses Kind heißt Axel Milberg. Dennoch legen Sie Wert darauf, dass es keine Autobiografie sei.

Es geht nur indirekt um mich. Aber wie ich Menschen und Situationen erlebt habe, Beobachtungen, Gesichter, Gefahren, das kann mitteilenswert sein. Da gab es einen Prozess des Erinnerns, als fiele ich in Zeitlupe rückwärts von einem Sprungturm in ein Becken. Und während ich so falle, merke ich, dass ich da in diesem Zwischenbereich bin. Die behagliche Welt des Bürgertums hat es nie gegeben.

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Und weil Sie sich zurückträumen, sitzen in diesem Roman beiläufig auch Fabelwesen in Bäumen, und einmal scheint ein Raumschiff zu landen.

Erich von Däniken hatte uns Schülern mit seinen Büchern damals die Welt erklärt. Der Icherzähler ist mir ähnlich, aber manches ist eine Möglichkeit.

Man würde gern wissen, was davon real war.

Ich habe autobiografisch begonnen, dann kam es zu literarischen Verdichtungen. Und manchmal lüge ich, dass sich die Balken biegen. Bitte glauben Sie alles.

Ist das eine Art Trend, dass Schauspielstars eine Zweitkarriere als Romanschriftsteller beginnen? Bierbichler, Tukur, Meyerhoff, Müller-Stahl …

Tolle Truppe, oder? Nur immer zu interpretieren kann eines Tages Fantasien wecken. Tatsächlich habe ich schon geschrieben, bevor ich auf die Schauspielschule gekommen bin, aber nur für mich. Vielleicht liegt es daran, dass wir als Schauspieler immer Geschichten spielen, mit Anfang und Ende, und dabei von Menschen erzählen. Mit der Zeit wird das Verlangen größer, eigene Geschichten zu erzählen. Aber es ist auch irrelevant, was Autoren sonst beruflich machen, wenn ihre Bücher was taugen.

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Wir lesen im Buch die Wirklichkeit dieses Kindes?

Mit dem Begriff Wirklichkeit kommt man nicht weit. Was soll das sein? Was sehen wir, wenn wir ein Foto von uns sehen, wo wir klein waren? Eine Stimmung, einen Ausdruck in den Augen. Das, was auf dem Bild fehlt, kommt vielleicht noch dazu, also etwas Unsichtbares. Und dann die Details, die verräterisch funkeln. Das Geheimnis liegt an der Oberfläche.

Sie schildern ein Kind, das verträumt ist, aber verunsichert. Und ungefähre Bedrohungen wahrnimmt. Angst vor Außerirdischen, einem Kindermörder – und generell von Erwachsenen, mit denen etwas nicht zu stimmen scheint.

Genau. So ist das doch immer mit dem "behütet". Da, wo es Angst gibt, wird behütet. Kinder spüren das. Als ich auf die Welt kam, war der Krieg gerade elf Jahre vorbei. Man wollte Frieden, Ruhe, Wohlstand. Schöne Dinge sammeln. Musik hören. Familie, Freundschaften, Sicherheit. Das Gegenteil von allem war aber auch da, und viel interessanter. Dem gehe ich nach.

Spannend.

Ich war erstaunt, was dabei zutage kam, da ist auch viel Wehmut und Sehnsucht. Aber ja.

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Es ist die Welt von gestern, die Sie beschreiben. Mondlandung, Treibjagden, Erich von Däniken, der einen Vortrag an der Schule hält.

Die Zeit war magisch aufgeladen. Für jeden Teenager ist die Welt neu, er buchstabiert hinterher, ist zugänglich für Theorien, die alle offenen Fragen auf einmal beantworten. Und ich sah, dass meine Eltern miteinander nicht immer glücklich waren.

Einmal rangeln die Eltern miteinander, und das Kind Axel sieht zu.

Ein wichtiger Punkt, das hat mich durch die Geschichte navigiert. Ich wollte beim Schreiben herausfinden, wieso manches nicht so unbeschwert war, wie es hätte sein können. Es ging uns gut, aber es gab dennoch dunkle Wolken. Ein Kind versteht das nicht.

War es schwierig, sich den eigenen Eltern mit diesem nüchternen Blick zu nähern?

Die heile Welt war für immer vorbei. Ich habe Teile gestrichen, wo ich das Leben meiner Mutter aus heutiger Sicht erklärt hatte. Das wäre zu einfach. Sie gab den Arztberuf auf, wegen uns Kindern. Vor 1977 durften Frauen ohne Erlaubnis des Ehemanns nicht arbeiten – nur zum Verständnis, in welcher Zeit wir uns befinden.

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Sie versuchen im Rückblick also auch, die Generation Ihrer Eltern zu verstehen.

Ich begriff damals nicht, dass sie im Prinzip auch Überlebende waren. Einer Kriegszeit. Das äußerte sich in einem – fast könnte man sagen – sozialen Analphabetismus. Meine Mutter war Jahrgang 1922, mein Vater 1920. Sie kamen aus einem Trümmerfeld, von dem wir nur wenig ahnten. Die Mutterliebe war an Bedingungen geknüpft: Wenn du das tust, hat dich Mama lieb, sonst nicht. Ich habe erst bei den eigenen Kindern begriffen, dass Liebe bedingungslos ist.

André Heller sagt, eine der Herausforderungen sei es, den Kontakt zum Kind in sich selbst zu bewahren.

Vor allem zu dem frühen Kind ist es nicht einfach, da hat man Inselwahrnehmungen. Ab der Schulzeit setzt ein Kontinuum ein. Das Kind in uns zu behalten macht vieles besser, aber was heißt das schon: erwachsen sein? Vielleicht kommt daher die Kälte, das Monströse, wenn wir versuchen, uns von dem Kind, das noch in uns atmet, abzuspalten. Dann werden wir gewalttätig, missgünstig oder kürzen die Löhne der Mitarbeiter und marschieren in Polen ein.

Ist das eine der Botschaften des Romans?

Ich wollte Verletzungen aufspüren, durchaus, ja. Aber Botschaften? Nein, bitte, nein. Es war mir übrigens auch nicht möglich, zynisch zu sein. Der warme, melancholische Klang war für mich überraschend, ich bin ein Freund des Ironischen, aber das ging nicht.

Vieles im Buch bleibt angedeutet: die Blessuren aus dem Krieg, die Sexualität, die Krankheiten.

Es geht um normale Familien und Menschen, die weder Opfer noch Täter waren, die 1968 keine Autoreifen anzündeten oder später zur RAF gingen. Diese angeblich bürgerliche Mitte, die in Büchern fast nie vorkommt. Die Kriegserfahrung teilte sich indirekt mit. Mein Vater, der in Russland war, schlief in Zimmern, wo eine Temperatur um null Grad herrschte. Und auf dem Nachttisch lag die Zeitschrift "Wild und Hund".

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In einem Kapitel, einer Traumsequenz, verfolgt Sie ein Zwerg. Sind Sie den je losgeworden?

Der rannte jahrelang hinter mir her, wollte mich töten, ich war Bettnässer und hab am Daumen genuckelt. Da war vieles nicht in Ordnung.

Sie waren bei keinem Therapeuten?

Sie wissen, dass ich beim Therapeuten war, mit 19, das steht im Buch. Liebeskummer. Das hatte meine Mutter eingefädelt. Als Ärztin glaubte sie an Medikamente.

Die Tabletten haben nicht geholfen.

Als meine Mutter gestorben war, haben meine Geschwister und ich Schubladen mit Tabletten gefunden. Meine Mutter war Doktor med., hatte bis zuletzt ihren Rezeptblock und verschrieb sich selbst alle möglichen Tabletten, klugerweise hat sie nie welche genommen.

Skurril.

Wir haben ihre Tablettenpackungen gesammelt und zu einer Sondermüllstation gebracht, die verweigerten die Annahme, denn sie dachten, wir kämen von einer Apothekenauflösung. Wir haben sehr gelacht.

Sie leben seit über 40 Jahren in München, tolle Frau, großartige Kinder. Man spricht von den Festen, die Sie geben, und wo Leute wie der Lieblingsenkel von Thomas Mann im Garten sitzen. Verzeihen Sie die Küchenpsychologie: Sie haben sich eine Gegenwelt zu Ihrem Elternhaus geschaffen.

Es geht voran, ja. Es ist alles lockerer, eine Erweiterung dessen, wofür man sich interessiert. Genießen können, dankbar sein. Freundlichkeit. Ich habe das Buch übrigens meiner Frau Judith gewidmet.

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Noch mal zu dem Gnom. Haben Sie je darauf geachtet, ob Ihre eigenen Kinder auch so einen haben?

Ängste sind wichtig, aber sie müssen einen nicht beherrschen. Es ist ein großes Thema bei uns, solche Zwerge zu vermeiden. Judith und ich sind nah dran an unseren Kindern und vor dem Einschlafen verfügbar, um die Dinge des Tages zu besprechen und nachzuerleben.

Sie sind mit sich zufrieden, als Vater.

Es gibt Untugenden. Sagen wir so: Ich schneide die Kanten ab von den Pausenbroten. Aber ich denke, es ist nichts Schlimmes passiert durch dieses Nicht-Erziehen. Wir verbieten nichts, wir reden aber ausführlich. Die drei Großen scheinen es gut verkraftet zu haben, sie sind alle sehr witzig und leidenschaftlich. Aber es gibt eine schlechte Nachricht.

Welche?

Sie schauen uns zu. Ich war mal wütend auf einen üblen Autofahrer. Da höre ich hinter mir: Papa, du hast den da drüben angespuckt. Durchs offene Fenster. Ich habe es abgestritten, nein, sagte ich, ich hab doch bloß, ich hatte so einen schlechten Geschmack im Mund. Aber er glaubte mir nicht. Kluges Kind.

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